Falter-Reportage: Fluss, Strom, Streit

Die EVN will im Kamptal ein Kraftwerk vergrößern – mitten im Naturschutzgebiet. Einmal mehr wird die Frage ausgefochten: Wann ist Wasserkraft wirklich grün? Der Energie-Report von Gerlinde Pölsler erschien im Falter (44 / 18).

Sibylle Steidl versteht es einfach nicht. Die Therapeutin ist vor zwei Jahren nach Gars am Kamp gezogen. Als Gern-Wanderin kennt sie viele schöne Plätze von der Steiermark bis Tirol, aber: „So einen natürlichen Flusslauf kenne ich sonst nirgends. Die Schönheit dieser wilden Gegend ist einzigartig – mit den urwaldartigen Hängen, teils gibt es nicht einmal Wege.“ Sie denkt darüber nach, hier Wanderungen zu veranstalten. Als sie erfuhr, dass in Rosenburg ein neues Kraftwerk gebaut werden soll, war sie „entsetzt“. Schnell fand Steidl sich als eine der Sprecherinnen in der Bürgerinitiative Lebendiger Kamp wieder.

Dabei tun an dem Fluss bereits 23 Kraftwerke ihren Dienst. Doch abschnittsweise fließt der Kamp noch frei, umgeben von alten Au- und Schluchtwäldern, Herberge für seltene Tier- und Pflanzenarten wie Eisvogel und Uhu, Mopsfledermaus und Fischotter. Ein Teil des Gebiets gehört zum Natura-2000-Europaschutzgebiet Kamp- und Kremstal. Viele Menschen kommen zum Wandern oder Kajakfahren hierher.

Doch jetzt will der niederösterreichische Landesenergieversorger EVN im mittleren Waldviertel um zehn Millionen Euro das 110 Jahre alte Kraftwerk Rosenburg abreißen und neu aufbauen. Derzeit versorgt es 1200 Haushalte, künftig sollen es doppelt so viele sein. Zu wenig, um einen so großen Eingriff in die Natur zu rechtfertigen, meinen Bürgerinitiative und NGOs. Sie sehen hier eine „Nagelprobe für Naturschutzpolitik“: Ein Kraftwerksbau im Natura-2000-Gebiet wäre ein Präzedenzfall, sagen sie.

„Es gibt eh schon so viele Kraftwerke am Kamp, warum muss jetzt dieses einzige schützenswerte Stück Natur auch noch herhalten?“, fragt Sibylle Steidl. Sie lief mit um Unterschriften, um noch rechtzeitig für die UVP als Bürgerinitiative anerkannt zu werden. Dazu braucht es 200 Unterschriften; der Lebendige Kamp hatte innerhalb von drei Wochen 534 Unterschriften beisammen.

Es ist ein Konflikt, wie er in Österreich zigfach ausgefochten wurde und wird: um ein Projekt in Ferschnitz an der Ybbs; um das Kraftwerk an der Schwarzen Sulm in der Steiermark, ebenfalls in einem Europaschutzgebiet, das seit Jahren Behörden, Gerichte und EU-Organe beschäftigt. Erbitterte Kämpfe gibt es auch in Salzburg und Tirol, etwa rund um den Kaiserbach, den Tauernbach und die Ötztaler Ache. Längst in Gang ist der Bau des umstrittenen Murkraftwerks in Graz-Puntigam.

Die Gegner beklagen jeweils, der Output stehe in keinem Verhältnis zum Ausmaß der Naturzerstörung. Erneuerbare Energie ja – aber bitte nicht für Pipifax-Projekte, die riesige Naturschäden anrichten würden. Der geplante Ausbau im Kamptal beispielsweise bringe nicht mehr als ein halbes Windrad.

Projektwerber, Befürworter und große Teile der Politik dagegen argumentieren: Wir müssen raus aus den fossilen Energien, wo bitteschön soll der Strom also herkommen? Die Naturschützer seien ja ebenso gegen Windräder. „Wir planen 15 Kilometer weiter einen Windpark. Einen Teil der Leute, die gegen Rosenburg sind, sehe ich auch dort bei Protesten“, sagt EVN-Sprecher Stefan Zach. „Dabei kommen sie selbst mit den Elektroautos daher.“

Wer hat recht?

Die Eckdaten zum Projekt Rosenburg, wie sie in den kürzlich eingereichten Unterlagen zur Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) stehen: Krafthaus und Wehranlage werden neu gebaut. Die Staulänge soll um 300 Meter auf gut einen Kilometer verlängert, die Staumauer um 1,6 Meter erhöht werden. Das führt zum „Einstau von Waldflächen“. Auf einer Länge von 1,6 Kilometern wird die Flusssohle um bis zu eineinhalb Meter tiefer gelegt, die Uferbereiche an dieser Strecke werden „neu gestaltet“. Insgesamt beanspruche man rund 6,4 Hektar zusätzliche Flächen. Am Ende soll eine Maximalleistung von 2,22 Megawatt stehen.

EVN und Gegner kommen teilweise auf keinen grünen Zweig, es scheitert schon am Wording. Warnen die Kritiker vor neuen Straßen, betont der EVN-Sprecher: „Es wird keine einzige neue Straße gebaut.“ Lieber spricht man im Antrag davon, dass bestehende Wege „auf eine Breite von 4 m plus beiderseits ein Bankett von 0,5 m ertüchtigt“ würden, schließlich müssten hier Lkw fahren. Allerdings würden die „Straßen nur geschottert ausgeführt“, großteils jedenfalls. Laut Zach wird auch ein Hektar Wald „temporär gerodet“. Er meint damit, dass einer von drei Hektar wieder aufgeforstet wird.

Endgültig driften die Einschätzungen bei den ökologischen Folgen all des Stauens, Bauens und Rodens auseinander.

Zur Aktionsgruppe Lebendiger Kamp haben sich neben der Bürgerinitiative auch viele NGOs eingefunden: der Naturschutzbund Niederösterreich und der WWF, Riverwatch, das Forum Umwelt und Wissenschaft. Auch der Umweltaktivist Werner Gamerith ist dabei; er hat sich schon Anfang der 1980er-Jahre gegen ein geplantes Kraftwerk im Kamptal engagiert – mit Erfolg. Kürzlich lud die Gruppe zur Pressekonferenz in Wien, „und beim ‚Bürgeranwalt‘ im ORF waren wir auch“, erzählt Sibylle Steidl.

Eine Fläche von gut acht Fußballfeldern an wertvoller Auwald- und Flusslandschaft würde durch den Bau zerstört, beklagt die Gruppe. Sowohl die Verwandlung vieler hundert Meter Fluss in ein stehendes Gewässer als auch die Ausbaggerung seien dramatische Eingriffe, erklärt Gerhard Egger, Programmleiter Fließgewässer beim WWF Österreich. Dabei habe das Land Niederösterreich den Kamp bereits als „erheblich verändert“ eingestuft. „Und jetzt will man da wieder ein Stück wegzwacken: Das verkraftet der Fluss nicht mehr.“

Stefan Zach, seit Jahrzehnten EVN-Sprecher, verbringt gerade den Großteil seiner Arbeitszeit im Atomkraftwerk Zwentendorf. Vor 40 Jahren sprachen sich die Österreicher gegen Atomkraft aus, deshalb sind in dem Geisterwerk aktuell viele Führungen gefragt. Dass Zwentendorf und Hainburg verhindert wurden, habe einen enormen Aufschwung von Kohlekraftwerken nach sich gezogen, sagt Zach. So sei das Werk in Dürnrohr gebaut worden, das die EVN bis 2025 abschalten will. Jetzt müsse man schleunigst raus aus allem Fossilen.

Zachs Tenor zu Rosenburg: Vom Neubau werde man kaum etwas merken. Schließlich produzierten schon jetzt zahlreiche Kleinwasserkraftwerke am Kamp Strom, und trotzdem schwärmten Anwohner und Touristen von der Schönheit der Landschaft. Die Experten versicherten, dass das Werk zu keinen schweren ökologischen Schäden führe. Ein Natura-2000-Gebiet bedeute ja nicht, dass man hier nichts mehr tun dürfe. Handeln müsse man in Rosenburg sowieso, da die Turbinen alt seien und die Wehranlage beim Hochwasser 2002 stark beschädigt und nur provisorisch erneuert worden sei.

Aber wieso gleich ausbauen? „Weil wir uns bemühen, die Stromerzeugung im Rahmen des Möglichen zu maximieren.“ Lieber lasse sich die EVN vorwerfen, dass sie zu viel zur Erfüllung der Klimaziele probiert habe als zu wenig. Und wenn die NGOs sagen, die EVN solle mehr auf Wind- und Solarstrom setzen, so tue sie das ohnehin: „Es geht nicht mehr um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Wir werden alle brauchen.“

Genauso sehen das Stromversorger in ganz Österreich. Dabei ist die Dichte an Wasserkraftwerken hierzulande schon sehr hoch. Laut Gerhard Egger vom WWF sind die heimischen Gewässer im Schnitt bereits alle 900 Meter unterbrochen. „Früher konnten die Fische etwa in Hitzeperioden hunderte Kilometer ausweichen. Jetzt haben sie nur noch kleine Badewannen übrig.“

Dabei ist der Beitrag all dieser Anlagen zum erzeugten Kuchen laut einer vom WWF in Auftrag gegebenen Studie sehr unterschiedlich: Rund 2500 der allerkleinsten Wasserkraftwerke mit unter einem Megawatt Leistung tragen nur vier Prozent zur Gesamtstromversorgung aus Wasserkraft bei. „Also sehr viel Schaden für wenig Wirkung“, findet Egger.

Durch das Credo, dass der Ausbau der Erneuerbaren über allem stehe, wird Klimaschutz gegen Naturschutz in Stellung gebracht. Beispiel Murkraftwerke: Bei der Staustufe Puntigam wurde eine starke „Verschlechterung des derzeit guten biologischen Zustands“ festgestellt, was prinzipiell einer Genehmigung entgegenstünde. Weil aber am Ausbau der Wasserkraft „überwiegendes öffentliches Interesse“ bestehe, wurde sie doch genehmigt. Mit derselben Begründung waren auch schon Murkraftwerk Nummer eins bis drei durchgewinkt worden.

Deutlich tritt dieser Konflikt auch rund um Schutzgebiete zutage. In der Broschüre des Landes zu den Europaschutzgebieten Kamp- und Kremstal heißt es, es müsse „ein ausreichendes Ausmaß an naturnahen Auwäldern“ erhalten werden, ebenso wie „weitgehend unverbaute Flussuferabschnitte“. Notwendig sei daher der „weitgehende Verzicht auf ‚harte‘ wasserbauliche Maßnahmen“. Sollte das Projekt durchgehen, müsse man sich fragen, welchen Sinn solche Schutzgebiete haben, sagen die Gegner.

Dabei sind Klima- und Naturschutz zwei Seiten derselben Medaille. Gerade in Zeiten des Klimawandels braucht es widerstandsfähige Flüsse. Als Wasserspeicher, für die Grundwasserversorgung und als Hort der Vielfalt, argumentieren NGOs: Je naturnäher, desto besser könnten sie Dürren und Überschwemmungen ausgleichen. Stattdessen werden aber die Flüsse Stück für Stück geschwächt – im Namen des Kampfes gegen den Klimawandel.

Gerhard Egger verweist auf den Zuwachs an Stromverbrauch, der in den letzten Jahren in Österreich im Schnitt bei etwa 1,5 Prozent gelegen ist: „Selbst wenn wir alle noch möglichen Wasserkraftwerke verwirklichen, könnten wir den Mehrkonsum damit nur noch 15 Jahre abdecken. Dann sind die letzten Naturräume zerstört – und wir haben immer noch dasselbe Problem.“

Was also tun, wo doch auch etwa um Windanlagen Konflikte entflammen? Für die seien zumindest ordentliche Konzepte mit Eignungs- und Ausschlusszonen erstellt worden, sagt Egger. Für die Wasserkraft fordern Experten dies seit Jahrzehnten.

Bei der Frage nach der Energiezukunft einzig auf den Strom zu starren, greift aus Sicht von Klimaexperten ohnehin viel zu kurz. Betrachtet man den gesamten Energieverbrauch Österreichs, so stammen laut Umweltbundesamt zwei Drittel nach wie vor aus fossilen Energieträgern. Der Strom ist da nämlich nur einer von mehreren großen Brocken – da sind aber noch weitere wie Wärme und Verkehr.

Beim Pkw- und Lkw-Verkehr etwa kommt Österreich pro Kopf auf die dritthöchsten CO2-Emissionen Europas, wie der Verkehrsclub Österreich soeben aufzeigte. Die massive Verkehrszunahme mache CO2-Einsparungen in anderen Bereichen „wieder zunichte“.

Für eine grüne Wende wird neben der Stromerzeugung also auch der restliche riesige Energiekuchen anzugehen sein. Zugespitzt: Das bloße Ausstatten der boomenden SUVs mit Elektromotoren, die dann mit Strom aus „grünen“ Kraftwerken herumkurven, wird nicht die Lösung sein. Klimaforscher mahnen, in wärmeeffiziente Gebäude zu investieren, den Individualverkehr und die Vielfliegerei einzudämmen und vor allem: den Gesamtverbrauch zu senken.

Der von Jahr zu Jahr steigende Energieverbrauch sei „kein Naturgesetz“, sagt die Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb. Es gehe nicht nur um bessere Technologien: „Es geht darum, weniger Strom, weniger Energie und Ressourcen zu brauchen.“

„Vor 2021 wird hier mit Sicherheit nichts passieren“, sagt EVN-Sprecher Zach. Man wisse schließlich nicht, wie es nach der UVP-Verhandlung, mit der bis nächsten Sommer zu rechnen sei, weitergehe. Die Gegner lassen trotzdem nicht locker: Für diese Woche haben sie die Band Bluatschink zum Benefizkonzert geladen. Die wird erzählen, wie ihr „wilder Lech“ in Tirol „um ein Haar durch Kraftwerke zerstört“ worden wäre.

Was Sibylle Steidl tut, wenn wirklich die Bagger auffahren? „Sich vor einen Bagger legen, davon halte ich nicht so viel.“ Aber bei einem Protestcamp, vielleicht mit Baumhaus, da wäre sie schon dabei.

(Zuletzt hat Doris Knecht im Falter zum Kraftwerkskonflikt im Kamptal Stellung bezogen.
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